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Brexit-Referendum: Ein Weckruf für Europa

Gerhard Wiesheu, DJW-Vorstandsvorsitzender / Partner, Bankhaus B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA und Vorstandsvorsitzender

Dieser Artikel erschien ursprünglich in den DJW News 4/2016.

So 16.10.2016, 14:03 Uhr

Der Ausgang des Brexit-Referendums war ein großer Schock, der Europa in seinem Selbstverständnis erschütterte. Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 mit den Zielen, den Frieden zu sichern und gemeinsam den Wohlstand zu verbessern, etablierte sich ein Prozess einer immer tiefergehenden Integration Europas. Das Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016 hat diesen Prozess erst einmal zum Stillstand gebracht und könnte sogar einigen Befürchtungen zufolge seine Um-kehr bewirken.

Eine genauere Untersuchung des Wahlverhaltens der Briten zeigt, dass weniger wirtschaftliche Gründe eine Rolle gespielt haben als vielmehr die Angst vor Überfremdung und vor dem Verlust von staatlicher Souveränität. Diese Angst war anscheinend so groß, dass die Briten gegen ihre eigenen Wirtschaftsinteressen stimmten. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt nämlich, dass britische Exporte zunächst erhebliche Marktanteile in Kontinentaleuropa verloren, als der Binnenmarkt ohne die Teilnahme Großbritanniens 1957 gegründet wurde. Der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1973 legte jedoch die Basis für einen Zurückgewinn der verlorenen Markteinteile und für ein dynamisches Wirtschaftswachstum in den Folgejahren. Laut einer Analyse von Prof. Campos und Prof. Coricelli hat der Beitritt Großbritanniens zum europäischen Binnenmarkt das britische Pro-Kopf-Einkommen von 1973 bis heute um insgesamt 30 % erhöht. Großbritannien profitierte dabei insbesondere von einem Produktivitätsanstieg aufgrund des intensiven Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts, von einem erheblichen Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen sowie vom Aufstieg Londons zum Finanzzentrum Europas. Etwa die Hälfte aller Unternehmen aus dem Nicht-EU-Raum, die in der Europäischen Union tätig sind, hat ihren Hauptsitz in Großbritannien, und der Bestand an ausländischen Direktinvestitionen in Großbritannien beträgt etwa 1,6 Billionen USD.

Ursprünglich war befürchtet worden, dass ein Votum für den Brexit eine schwere Rezession in Großbritannien auslösen könnte, da das Land aufgrund eines hohen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizits sehr abhängig von ausländischen Kapitalzuflüssen ist. Das britische Pfund konnte sich jedoch nach zunächst deutlichen Kursrückgängen schnell wieder stabilisieren, was ein Signal dafür ist, dass Groß-britannien immer noch ein großes internationales Vertrau-en genießt und ausreichend ausländisches Kapital anzieht. Der stabile Wechselkurs ermöglichte es der Bank von Eng-land, die Geldpolitik mit Liquiditätsschritten und mit einer Zinssenkung im August zu lockern und damit die britische Wirtschaft zu stützen. Das Wachstum in Großbritannien scheint sich vor diesem Hintergrund nur moderat verlang-samt zu haben, das Land bleibt aber aufgrund der schlechten Fundamentaldaten anfällig für Währungs- und Zinsturbulenzen. Interessanterweise sorgte der Brexit-Schock im restlichen Europa vor allem für Turbulenzen bei Bankaktien und für Ängste vor einer neuen Bankenkrise. Die Kredit- und Konjunkturdaten haben sich jedoch seitdem nicht nennenswert verschlechtert, sodass bisher keine Ansteckungs-effekte auf das restliche Europa erkennbar sind. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Europäische Zentralbank das Bankensystem ausreichend mit Liquidität versorgt, sodass die Banken ihre makroökonomischen Aufgaben erfüllen können.

Derzeit ist es immer noch völlig offen, wie Großbritannien sich in Zukunft zur Europäischen Union (EU) positionieren will. Jüngste Aussagen von britischen Politikern deuten aber darauf hin, dass Großbritannien eine harte Scheidung bevorzugt: In diesem Fall würde Großbritannien die voll-ständige Kontrolle über den Zuzug von Ausländern zurück-erhalten, aber den Zugang zum EU-Binnenmarkt weitestgehend verlieren. Der freie Verkehr von Waren und Dienst-leistungen würde über ein Freihandelsabkommen mit der EU geregelt. Zwangsläufig würden damit Unternehmen ihren Geschäftsschwerpunkt von Großbritannien in die EU verlagern. Eine Umfrage der Economist Intelligence Unit unter britischen und deutschen Unternehmen ergab, dass nahezu jedes fünfte Unternehmen bei einem Vollzug des Brexit einen solchen Schritt plant. Der wirtschaftliche Schaden für Großbritannien wäre immens, zumal noch die Ab-spaltung von Schottland und Nordirland von Großbritannien droht.

Japanische Unternehmen sind vom Brexit besonders betroffen: Von über 6.000 japanischen Unternehmen in der EU haben knapp 1.000 ihren Sitz in Großbritannien, davon rund 24 % produzierende Unternehmen. Viele der in Großbritannien ansässigen japanischen Unternehmen haben dort ihre Europazentrale, von der aus das gesamte Europageschäft betreut wird. Gemäß einer Umfrage der JETRO unter Teilnehmern an einem Seminar zum Thema „Brexit“ am 14.09.2016 in London, an dem Vertreter von 54 japanischen Unternehmen teilnahmen, erwarten etwa 65 % negative Auswirkungen des Brexit auf ihr Geschäft. Darunter gab es einige Stimmen, die äußerten, ihr Unternehmen prüfe bereits Umzugsoptionen nach Deutschland, Irland oder die Niederlande.

Im September veröffentlichte die japanische Regierung ein offizielles Schreiben mit Anforderungen der japanischen Unternehmen in der EU bzgl. der weiteren Brexit-Verhand-lungen an die britische Regierung und die EU. Gleichzeitig beginnt man in vielen Städten Kontinentaleuropas, sich auf den Zuzug von Unternehmen aus Großbritannien in EU-Staaten einzustellen. Städte mit hoher Dichte japanischer Firmen werben um japanischen Unternehmen in Großbritannien, die überlegen, ihre Geschäftsaktivitäten in der EU zu verstärken.

Für das restliche Europa stellt sich die Frage, ob die Bevölkerungen in den verbleibenden EU-Mitgliedsländern ähnliche Ängste wie die Briten haben. Das Verfassungs-referendum in Italien im Herbst, die Präsidentschaftswahlen in Frankreich sowie die Bundestagswahlen im nächsten Jahr werden zeigen, inwieweit die Bevölkerungen hinter dem europäischen Integrationsprozess stehen. Erste Um-fragen nach dem Brexit-Referendum zeigen eine zunehmende Zustimmung zur EU in den verbleibenden Mitglieds-staaten, da vermutlich die Vorteile eines geeinten Europas wieder stärker ins Bewusstsein gerückt sind. Wahrscheinlich wird jedoch erst nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr die Diskussion über die Zukunft Europas ernsthaft beginnen.

Gerhard Wiesheu
Partner,  Bankhaus B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA
Vorstandsvorsitzender, Deutsch-Japanischer Wirtschaftskreis (DJW)
info@djw.de
http://www.djw.de
Gerhard Wiesheu
Partner, Bankhaus B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA
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