Gerhard Wiesheu, DJW-Vorstandsvorsitzender
Erkenntnisse und Lehren aus dem jüngsten Börsenspektakel in den USA
Die Kurskapriolen einiger US-Aktien wie „GameStop“ sind derzeit in aller Munde. Auch wenn die von Privatanlegern ausgelöste Spekulationswelle noch nicht nach Japan und Deutschland herübergeschwappt ist, sollten sich beide Länder schon jetzt für den Ernstfall wappnen. Doch dazu später mehr.
Was ist passiert? In den USA haben sich in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Handelsplattformen etabliert, die kostengünstig und sehr unkompliziert den Handel von Aktien und Aktienoptionen ermöglichen – unter ihnen die jüngst zu zweifelhafter Bekanntheit gelangte und unter irreführendem Namen firmierende Gesellschaft „Robin Hood“. Das hat dazu beigetragen, den Anteil an Einzelpersonen am Gesamthandel mit Aktien von etwa 10 % 2019 auf über 20 % 2020 zu verdoppeln. Verstärkt wurde der Trend durch die zusätzliche (Frei-)Zeit aufgrund der Lockdowns und der umfangreichen staatlichen Transfers an die Privathaushalte in den USA.
Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn ein immer größerer Teil der Bevölkerung Anteile am Produktivvermögen einer Volkswirtschaft hält. Tatsächlich scheint jedoch – vor allem in den USA – ein Spekulationsfieber überhandgenommen zu haben, das zuletzt mithilfe von Social-Media-Kanälen eine neue Eskalationsstufe erreicht hat. So müssen institutionelle Anleger wie Hedgefonds den Bestand ihrer leerverkauften Aktien regelmäßig offenlegen. Die Möglichkeit, sich Aktien zu leihen, sie zu verkaufen und sie nach drei oder sechs Monaten wieder zurückzukaufen – also einen Leerverkauf zu tätigen –, hat eine sehr wichtige Funktion am Aktienmarkt: Denn erst dadurch lässt sich eine zu große Überbewertung von einzelnen Aktien verhindern. Ein unangemessen hoher Aktienkurs ist deshalb so gefährlich, weil er zum Entstehen von Zombie-Unternehmen beitragen kann – und damit auch zu schmerzhaften Kursverlusten bei Anlegern.
Über Social Media koordinierten sich nun die spekulationswilligen Privatinvestoren, um den Kurs von Aktien mit den meisten leerverkauften Aktien gezielt in die Höhe zu treiben. Als eine Folge dessen erlitten die Hedgefonds große Verluste und mussten teilweise ihre leerverkauften Aktien zurückkaufen. Die Spekulation war somit auf den ersten Blick erfolgreich. Auf den zweiten Blick lässt sich daran jedoch eine sehr gefährliche Entwicklung ablesen, weil die konzertierten Kursattacken die Preisfindung am Aktienmarkt erheblich verzerren und stören und somit zu erheblichen Übertreibungen beitragen können. Hinzu kommt, dass viele Privatanleger nach unerwartet hohen Gewinnen bei Finanzspekulationen zunehmend unvorsichtiger agieren und immer höhere Risiken eingehen. Denn neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass bei hohen Kursgewinnen sehr viel Dopamin und Testosteron im Körper ausgeschüttet wird, was durchaus mit einem Drogenrausch vergleichbar ist. Erfahrungsgemäß nimmt dieses „Spiel“ für die große Mehrheit der spekulationshungrigen Anleger kein gutes Ende, und sie erleiden früher oder später empfindliche Verluste. Damit droht auch mittelfristig das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung erschüttert zu werden.
In Europa und Japan sind solche Übertreibungen glücklicherweise bisher nicht an den Aktienmärkten zu beobachten – wobei die Spekulationswelle sich jedoch auch hier jederzeit Bahn brechen könnte. Im Ernstfall wäre es kaum möglich, dagegen mit politischen Mitteln wie Verboten vorzugehen, ohne den normalen Handel am Aktienmarkt erheblich zu beeinträchtigen. Daher wäre es umso wichtiger, schon jetzt über die erheblichen Risiken solcher Spekulationsgeschäfte aufzuklären und dafür alle denkbaren Kommunikationskanäle zu nutzen. Dabei sollten jedoch die grundsätzlich großen Chancen von Aktien nicht aus dem Blickfeld geraten – vorausgesetzt, die Anleger haben einen langfristigen Anlagehorizont und verwechseln die Börse nicht mit einem Spielkasino.