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Die "Stechuhr"-Entscheidung des BAG vom 13. September 2022

Hinweise für Arbeitgeber

Hinweis unseres Mitglieds Dr. Ganteführer, Marquardt & Partner mbB

Do 13.10.2022, 11:55 Uhr

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 13. September 2022 entschieden, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann (Beschluss v. 13. September 2022 – 1 ABR 22/21). In dem Verfahren ging es um die Frage, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht. Die Vorinstanz, das Landesarbeitsgericht Hamm (LAG Hamm), bejahte diese Frage und stützte sich dabei auf § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Nach dieser Vorschrift hat der Betriebsrat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, mitzubestimmen, wenn es um die Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen geht, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen (LAG Hamm, Beschluss v. 27. Juli 2021 – 7 TaBV 79/20). Das BAG hingegen lehnte ein solches Initiativrecht des Betriebsrats mit der Begründung ab, dass eine gesetzliche Regelung zur Zeiterfassung bereits bestehe. Bei unionskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) sei der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließe ein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus (so die Pressemitteilung des BAG, Einführung elektronischer Zeiterfassung - Initiativrecht des Betriebsrats - Das Bundesarbeitsgericht).

Noch ist die schriftliche Begründung des Beschlusses nicht veröffentlicht worden, so dass die genauere Analyse der Entscheidung nicht möglich ist. Jedoch steht bereits jetzt fest, dass diese Entscheidung – weit über die Feststellung über das Nichtbestehen des Initiativrechts des Betriebsrats hinaus – weitreichende Folgen hat. Denn die Aussage des BAG ist eindeutig: der Arbeitgeber ist bereits jetzt verpflichtet, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Wir möchten Sie hiermit informieren, was der Arbeitgeber in der Praxis zu beachten hat.

Wie alles anfing – Das "Stechuhr-Urteil" des EuGH

Die Diskussion über die Arbeitszeiterfassung begann im Wesentlichen mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019. Demnach sind, vereinfacht gesagt, die europäischen Mitgliedstaaten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass jeder Arbeitgeber ein objektives, verlässliches und zugängiges Arbeitszeiterfassungssystem einrichtet (EuGH, Urteil v. 14. Mai 2019 – C-55/18). Im Ausgangsverfahren ging die CCOO, eine Arbeitnehmervereinigung in Spanien, gegen die Deutsche Bank vor und begehrte die gerichtliche Feststellung, dass die Deutsche Bank verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von ihren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass ohne ein System, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, keine Garantie dafür gibt, dass die tatsächliche Beachtung des Rechts auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf Mindestruhezeiten den Arbeitnehmern vollständig gewährleistet wird. Um die praktische Wirksamkeit dieses Rechts zu gewährleisten, müssen – so der EuGH – die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Die bisherige Rechtslage in Deutschland

Das EuGH-Urteil hatte zunächst keine unmittelbare Auswirkung auf die Praxis. Es richtet sich nicht direkt an die Arbeitgeber, sondern an die Mitgliedstaaten. Wo es keine ausdrückliche gesetzliche Aufzeichnungspflicht gab, war der Arbeitgeber nach weit verbreiteter Auffassung auch nicht verpflichtet, ein Zeiterfassungssystem einzuführen. Das deutsche Recht sieht z.B. eine Pflicht des Arbeitgebers zur Zeiterfassung vor bei geringfügiger Beschäftigung (§ 17 MiLoG) und in den in § 2a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Wirtschaftsbereichen und -zweigen (z.B. Baugewerbe, Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe sowie Fleischwirtschaft). Darüber hinaus ist der Arbeitgeber nach § 16 Abs. 2 ArbZG verpflichtet, die Überstunden der Arbeitnehmer aufzuzeichnen, was allerdings insbesondere für leitende Angestellte nicht gilt (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG). Eine ausdrückliche Verpflichtung zur Erfassung der „gewöhnlichen“ Arbeitszeit sieht das deutsche Recht aber nicht vor. Daher war (eigentlich) der Gesetzgeber gefordert, die Vorgaben des EuGH-Urteils so umzusetzen, dass jeder Arbeitgeber in Deutschland gesetzlich verpflichtet wird, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen.

Kehrtwende durch die BAG-Entscheidung

Der deutsche Gesetzgeber ist aber bislang weitgehend untätig geblieben. Im Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und den FDP wird das Vorhaben zwar aufgegriffen, darin heißt es aber lediglich, dass geprüft werden soll, welcher Anpassungsbedarf angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht besteht.

Mit seiner Entscheidung vom 13. September 2022 schafft das BAG nun die Fakten. Der Arbeitgeber sei schon heute gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies ergibt sich laut BAG aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, wonach der Arbeitgeber zwecks Gewährleistung des Arbeitsschutzes für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen hat. Das BAG legt diese Vorschrift europarechtskonform aus und sieht darin die Verpflichtung des Arbeitgebers, ein System der Erfassung der gewöhnlichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer einzuführen. Insofern spielt es auch keine Rolle, ob im Betrieb ein Betriebsrat existiert oder nicht – jeder Arbeitgeber in Deutschland ist dazu verpflichtet.

Was muss der Arbeitgeber konkret tun?

Was die Arbeitgeber nun konkret tun sollen, lässt sich erst nach Veröffentlichung der Entscheidungsgründe sagen. Nach jetzigem Stand kann man jedoch zumindest Folgendes festhalten:

  • Jeder Arbeitgeber muss, sofern noch nicht geschehen, ein Zeiterfassungssystem einführen. Er muss z.B. nicht nur Überstunden, sondern die gewöhnlichen Arbeitszeiten der Arbeitnehmer erfassen.
  • Es gibt (noch) keine Vorgaben, wie die Arbeitszeiterfassung erfolgen soll. Schwierigkeiten kann es insbesondere bei Vertrauensarbeitszeit geben, bei denen der Arbeitnehmer überwiegend selbst für die zeitliche Gestaltung seiner Arbeit verantwortlich ist. Ein Lösungsansatz ist, dass der Arbeitnehmer selbst eine Excel-Tabelle führt, in der er seine Arbeitszeit (Beginn, Ende und Pausen) dokumentiert. Eine derartige Delegation der Arbeitserfassung auf den Arbeitnehmer müsste zulässig sein, da das Arbeitsschutzrecht die Möglichkeit der Übertragung von Aufgaben auf Beschäftigte vorsieht (§ 7 ArbSchG).
  • Auch im Falle von Home-Office / mobiler Arbeit gilt das Gleiche. Der Arbeitgeber hat grundsätzlich keinen Überblick, wann der Arbeitnehmer seinen arbeitsvertraglichen Pflichten nachkommt. Hier müsste die Arbeitszeiterfassung ebenfalls auf den Arbeitnehmer delegiert werden können.
  •  Von der arbeitszeit- bzw. arbeitsschutzrechtlichen Arbeitszeit, die der Zeiterfassungspflicht unterliegt, sind die vergütungsrechtlichen Arbeitszeiten zu unterscheiden. So können z.B. die erforderlichen Reisezeiten während der Dienstreisen außerhalb der regulären Arbeitszeit in Ermangelung anderslautender Vereinbarung die Vergütungspflicht des Arbeitgebers auslösen. Solche Reisezeit ist aber keine Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitrechts, wenn der Arbeitgeber nur vorgibt, für die Reise ein öffentliches Verkehrsmittel zu nutzen und der Arbeitnehmer die Reisezeit beliebig nutzen kann.
  • Verstöße gegen § 3 ArbSchG sind nicht unmittelbar bußgeldbewehrt, d.h. ignoriert der Arbeitgeber die Zeiterfassungspflicht, droht erst einmal kein Bußgeld. Die Mitarbeiter könnten aber die zuständige Aufsichtsbehörde informieren und diese könnte behördliche Maßnahme anordnen (§ 22 Abs. 3 ArbSchG). Der Verstoß dagegen kann als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 3.000 Euro geahndet werden (§ 25 ArbSchG).

Ausblick

Nach dem „Stechuhr-Urteil“ des EuGH sind inzwischen mehr als drei Jahre vergangen. Der deutsche Gesetzgeber hat es in dieser Zeit leider nicht geschafft, eine klare und in der Praxis gut umsetzbare Regelung zur generellen Arbeitszeiterfassung zu schaffen, die flexible Arbeitszeit weiterhin ermöglicht. Nunmehr hat das BAG den Gesetzgeber überholt.

Das ganze Ausmaß der BAG-Entscheidung wird erst ersichtlich, wenn die Entscheidungsgründe veröffentlicht werden. Wir werden sie analysieren und Sie auf dem Laufenden halten.

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